Unsere Ungeduld macht uns oft unglücklich
Es war einmal ein kleiner Prinz, Sohn eines Königs, der wiederholt von seinem Lehrer streng gerügt wurde. Am Abend war er darüber sehr traurig: „Wie unglücklich sind wir doch als Kinder, dachte er. Wir müssen gehorchen, zuhören, lernen, Hausaufgaben machen. Warum vergeht die Zeit nicht schneller? Warum bin ich nicht schon ein Mann? Wie glücklich wäre mein Leben, wenn ich die Tage beschleunigen könnte! „
Über dem Weinen schlief das Kind ein. Am nächsten Morgen, als der Junge aufwachte, erblickte er auf seinem Bett eine zauberhafte Spule. Darauf war ein seidener Faden aufgewickelt, der im Licht der Morgensonne schimmerte.
Der Junge schrie überrascht auf und streckte die Hand aus, um das zu ergreifen, was er für ein bezauberndes Spielzeug hielt. Aber plötzlich kam aus der kleinen Rolle eine leise Stimme, die dem jungen Prinzen die folgenden Worte ins Ohr flüsterte:
Die Spule flüsterte dem Prinzen ins Ohr
„Gib gut acht! Möge deine leichtsinnige Hand sich mir nicht ohne Sorgfalt nähern. Pass auf, dass dein Atem nicht meine lebhaften Farben verblassen lässt. Wenn du wüsstest, was ich bin, junger Prinz! Der wundervolle Faden, der sich um mich wickelt, gibt die ganze Reihe deiner Tage auf dieser Erde wieder. Siehe, wie sich dieser Faden im Laufe der Zeit abspult und abwickelt. Du kannst diesen Faden, der ständig in Bewegung ist genauso nicht aufhalten, wie du auch die Zeit nicht anhalten kannst. Daher hör mir gut zu: Gestern Abend wolltest du deine Tage schneller vorantreiben können. Ich gebe dir hiermit die Kraft dazu. Wenn du diesen Seidenfaden von der Spule abwickelst, wirst du feststellen, dass zur gleichen Zeit deine Tage in Eile vergehen, so als hingen sie an diesem Faden. Denke jedoch daran, dass deine Hand, die Spule mit dem Seidenfaden sogar in einem Moment vollständig abwickeln könnte, den Faden aber nie mehr aufrollen kann.“
Als der Prinz die Stimme dieser wunderbaren Rolle hörte, hatte er seine Hand, die dabei war, die Spule zu ergreifen schnell zurückgezogen. Er sah sie lange an, ohne es zu wagen, sie zu berühren. Schließlich ermutigte er sich. Er dachte, ich ziehe an dem Faden, aber nur sehr wenig, um einen einzigen Tag vorbeiziehen zu lassen.
Und mit der Spitze seines Fingers zog er den Faden. Und schwupp war bereits ein Tag vergangen. Es war schon wieder dunkel, und er lag in demselben Bett, in dem er gerade aufgewacht war, bereit um wieder einzuschlafen.
„Das ist ja wunderbar!“ rief der junge Prinz. „Ein vergangener Tag ist nicht genug. Vorgestern wollte ich erwachsen werden und ein Mann sein. Komm schon!“
Aus dem Prinz wurde ein König
Dabei ergriff er die Spule und begann, an dem Faden zu ziehen. Er zog ihn so lange, bis er sah, dass er ein Mann mit einem Bart am Kinn war. Als er aus seinem Zimmer trat, umringten ihn Stadträte und Höflinge und sprachen mit ihm über alle möglichen Staatsangelegenheiten. Er war jetzt der König.
Anfangs war das eine große Freude für ihn. Als er aber nach seinem Vater und seiner Mutter fragte, wurde ihm gesagt, dass sie beide tot seien.
Da fing der junge Mann an zu weinen. Aber ein weinender König, das geht doch überhaupt nicht! Die Höflinge wiesen ihn darauf hin, dass dieses Verhalten einer königlichen Majestät nicht würdig wäre. Wenn ihm seine Einsamkeit wehtäte, könnte man Abhilfe schaffen. Immerhin sei er doch volljährig, und könne heiraten.
Der junge König stimmte schließlich der Idee seiner Höflinge zu. Er schickte Botschafter aus, zu verschiedenen Königen, damit sie um die Hand einer Tochter bitten sollten. Die Botschafter zogen hinaus in die Welt. Ein Tag verging, dann zwei. Die Botschafter kehrten nicht zurück. Der König starb fast vor Ungeduld.
Die Spule besorgte dem König eine Verlobte
Er erinnerte sich an die zauberhafte Rolle, nahm sie in die Hand und sprach:
„Wickle dich ab, wickle dich ab, du Faden meiner Tage!“
Und plötzlich hielt der König den Arm seiner Verlobten. Die zukünftige Königin war wunderschön, sie gefiel ihm sehr. Wenn ihre gemeinsamen Kinder, wie sie sein werden, dachte er, haben sie alle die besten Eigenschaften.
Aber wie weit ist der Tag noch entfernt, an dem der König seine Kinder in die Arme schließen kann? Dieser Moment ist aber noch in sehr weiter Ferne, sagte er sich. Deshalb ergriff der König die Rolle und zog mit ungeduldiger Hand daran. Und schon sah er sich als Familienvater. Er bedeckte seine Neugeborenen mit Küssen und Liebkosungen. Aber die Babys reagierten darauf mit Tränen und Schreien.
„Was ist das?“ sagte der König. „Das ist kein Vergnügen. Meine eigenen Kinder in der Wiege zu haben, die mich aber nicht verstehen und nicht auf meine Liebe antworten können! Ich möchte sie groß sehen, ich möchte sie als Erwachsene sehen.“ Und wieder zog er den Faden von der Spule.
Und er ging immer wieder zur Rolle zurück, und er sah seine Tage und Jahre vor seinen Augen verlaufen, wie ein Bienenschwarm, der von einem Wirbelwind davongetragen wurde.
Nach jedem unbefriedigten Verlangen in seinem Leben sah er bereits das nächste, noch bohrender. Und immer wieder griff er nach der Rolle und die Spule drehte sich zwischen seinen Fingern, und immer weiter wurde der Faden abgewickelt.
Nun geschah es, dass eines Tages unter dem Seidenfaden plötzlich das goldene Holz der Spule erschien. Der Faden erreichte bald sein Ende und somit auch das Leben des Königs. Vor lauter Überraschung und Entsetzen ließ seine Hand die Spule fallen. Er hob sie schnell wieder auf und legte sie an einen sicheren Ort.
Der König empfand sein Leben als leer
Der König wagte es kaum, auf den Faden zu schauen, aus Angst, die unmerklich abnehmende Bewegung, würde sich mit seinem Blick weiter beschleunigen.
Er wollte seinen Herzschlag verlangsamen, um sein Leben, das so schnell enden sollte, zu verlängern. Er saß am Tisch, auf dem er die wundervolle Rolle abgelegt hatte, und versuchte dort, während sie ihre ständige Bewegung fortsetzte, die Tage, die so schnell vergingen, in Erinnerung zu behalten.
Wie leer empfand er jetzt sein Leben! Was hatte er getan, damit die Erinnerung an ihn bleiben konnte? Er sah alt und verkrüppelt aus. Seine Jahre, die so schnell vergangen waren, hatten dennoch ihre Spuren in seinem runzligen Gesicht, auf seinem weißhaarigen Kopf und seinen gebeugten Schultern hinterlassen.
In diesem Augenblick verließen ihn seine Stärke und seine Jugend und er begriff den Preis seines Verhaltens!
Was hätte er nicht alles dafür hergegeben, damit er auf dieser Rolle den Faden wieder hätte aufwickeln können! Und mit einem stillen Blick, voll Traurigkeit hörte er die Stimme, die er in seiner Jugend bereits einmal hörte:
„Was du fragst, ist unmöglich, König. All die vergangenen Tage werden niemals wiederkommen. Du bist nicht der Einzige, der sein Leben wie im Rausch verbracht hat. Wie sorglos bist du? Wie viele gibt es, die ihr Leben damit verbringen, ungeduldig auf das Glück zu warten, das nicht für sie kommen wird? Oh König, dein Leben scheint leer zu sein. Es ist so, dass du es nicht mit guten Taten erfüllt hast. Es scheint dir unglücklich zu sein. Das liegt daran, dass du nicht wusstest, wie man es richtig benutzt. An welchem Lebenswerk hast du gearbeitet? Hat deine müßige Hand etwas anderes getan, als diesen Faden ungeduldig abzuwickeln, dieser Faden, der dein Leben war? Deine Ungeduld war im Grunde Faulheit. Geh, wenn du nicht glücklich bist. Es ist so, weil du es nicht besser verdient hast.“
Die Moral der Geschichte
Ich habe diese Geschichte ohne Happy End von Jean-Marie GUYAU (französischer Philosoph und Dichter) frei übersetzt. Sie ist ergreifend in Bezug auf Wahrheit und Aktualität.
Die Mehrheit der Menschen rennt der Zeit hinterher. Wie ist es mit dir? Nimmst du dir die Zeit, dein Leben wirklich zu leben? Nimmst du dir Zeit, um deine Familie zu lieben und wertvolle Zeit mit ihr zu verbringen? Reservierst du dir Zeit, um Spaß zu haben, dich selbst zu lieben und Aktivitäten zu unternehmen, die dein Herz erfüllen? Oder füllst du jeden Tag mit stressigen Aktivitäten, die dich nicht zufriedenstellen, die du aber für nötig hältst, um deinem Ego gerecht zu werden? Hat dein Leben wirklich einen Sinn für dich?
Ich werde in Kürze einen weiteren Blogartikel zum Thema „Umgang mit der Zeit“ verfassen. Wenn du ihn nicht verpassen willst, schreib dich für meinen kostenfreien Newsletter ein.